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Willensfreiheit und rechtliche Schuld
Willensfreiheit und rechtliche Schuld




Reinhard Merkel (Hrsg.)

Reihe: Würzburger Vortrge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie


Nomos Verlagsgesellschaft
EAN: 9783832932046 (ISBN: 3-8329-3204-6)
137 Seiten, Kunststoffeinband, 14 x 20cm, Februar, 2008

EUR 28,00
alle Angaben ohne Gewähr

Rezension
Hat der Mensch einen freien Willen oder ist er eine Marionette seines Gehirns ? Das ist eine Frage, die seit den Behauptungen führender Neurobiologen in den Zeitungen und populären Zeitschriften vehement diskutiert wird. Auf der einen Seiten stehen die Leugner der Willenfreiheit wie die Neurobiologen Wolf Singer und Gerhard Roth sowie der Kognitionspsychologe Wolfgang Prinz, auf der anderen Seite halten Philosophen wie Jürgen Habermas, Peter Bieri, Michael Pauen, Ansgar Beckermann, Julian Nida-Rümelin an der Willensfreiheit des Menschen fest.
Mit der klassischen Frage der Philosophiegeschichte beschäftigte sich Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, auch in einem Vortrag im Januar 2006, aus dem das 137seitige Buch „Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung“ hervorgegangen ist. Der Jurist gibt zunächst eine kursorische Klärung der Grundbegriffe „Freiheit“, „Wille“ und „Handlungs-/Entscheidungsfreiheit“, ohne dabei allerdings auf die grundlegenden Arbeiten von Ansgar Beckermann oder Henrik Walter zur Willensfreiheit Bezug zu nehmen. Als zentrales Element der Willensfreiheit wird dabei von Merkel im Anschluss an Kane das „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“(S. 17f.) bestimmt. Danach setzt er sich aus philosophischer, primär als sprachanalytischer Sicht angelsächsischer Provenienz, mit verschiedenen Positionen der Relationierung von Determinismus, Willensfreiheit und Verantwortlichkeit auseinander.
In dem philosophischen Diskurs wird der Determinismus oftmals unter Heranziehung von Argumentationen aus Immanuel Kants „Dritter Antinomie“ oder Heinrich Rickerts „Allgemeiner Grundlegung der Philosophie“ als logisch widersprüchlich kritisiert, da er an einem performativen Selbstwiderspruch leidet. Merkel teilt diesen „self defeating“-Einwand nicht (S. 38), er charakterisiert die Kritik am Determinismus als „destruktive Strategie“. Auch das gegen die determinististische Position hervorgebrachte „Gründe versus Ursachen“-Argument, auf das u.a. Jürgen Habermas Rekurs nimmt, wird von Merkel zurückgewiesen. Die Freiheitslehre Kants hält Merkel ebenfalls für „unhaltbar“(S. 60). Gegenüber Varianten des Inkompatibilismus vertritt Merkel eine kompatiblilistische Position, genauer tritt er für „normativierende Ergänzungen“ zur Konzeption von Harry G. Frankfurt ein. Insbesondere plädiert Merkel für die Berücksichtigung „extern erzeugter „second-order volitions“ aus dem Bereich echter Autonomie.“(S. 107f.) Den Grundgedanken dieser Kompatabilismus umschreibt der Jura-Professor folgendermaßen: „Dass meine Neigungen, Charakterzüge, Fähigkeiten und Präferenzen genauso wie meine darauf beruhenden Handlungsentschlüsse aus dem terminierten Funktionieren meines Gehirns stammen, ist für eine wohlverstandene Freiheit […] nicht nur unschädlich; es ist vielmehr geradezu Voraussetzung dafür, dass mein Wille wirklich mein authentisch-eigener ist.“(S. 108) Diese Argumentation erinnert an Michael Pauens „Minimalkonzeption von Freiheit“, auf die Merkel dann auch in den Fußnoten verweist.
Rechtsphilosophisch interessant ist Merkels profunde Analyse des §20 des Strafgesetzbuches. Ausgehend von seinen Reflexionen plädiert Merkel für „fünf Änderungen im bislang herrschenden Umgang der Strafrechtswissenschaft mit dem Problem des Schuldprinzips“(S. 133). So betont der Jurist, „dass die Annahme, der „normale“ Straftäter habe einen freien Willen im starken Sinne eines Andershandelnskönnens im Moment seiner Tatbegehung nicht nur nicht nachweisbar ist, sondern keine guten Gründe für sich hat.“(S. 134) Dieses führt aber zu einem Dilemma, da §20 eine „normative Setzung“ beinhaltet. Eine angemessene Neuformulierung dieses Paragraphen erweist sich daher als notwendig, aber als schwierig, so Merkel.
Die Komplexität des Thematik „Willensfreiheit, Neurobiologie und Recht“ zeigt sich auch, wenn man sie im gymnasialen Ethik- oder Philosophieunterricht behandelt. Aus eigener Erfahrung mit von SchülerInnen durchgeführten Podiumsdiskussionen kann ich nur bestätigen, dass die Frage nach der Verantwortlichkeit und der Willensfreiheit spannende und kompetenzerschließende Unterrichtssequenzen ermöglicht.
Fazit: Reinhard Merkels im „Nomos Verlag“ erschienenes Büchlein „Willensfreiheit und rechtliche Schuld“ liefert fundierte Reflexionen über ein aktuelles Thema. Außerdem demonstriert sein Text sehr gut den engen Konnex von Ethik, Rechtsphilosophie und Jurisprudenz. Juristen, Fachphilosophen und Lehrer, die sich fundiert über das Thema „Willensfreiheit und Recht“ informieren, sei das Werk von Merkel nahegelegt.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
I. Übersicht 7
II. Grundbegriffe 9
III. Zum Verhältnis Determinismus, Freiheit und Verantwortlichkeit: Drei Grundpositionen 19
IV. Die inkompatibilististischen Positionen: Prinzipielle Argumente und Grenzen
V. Die kompatibilististischen Positionen: Grundlagen und Grenzen 79
VI. § 20 StGB: zur Legitimation eines vernünftigen strafrechtlichen Schuldprinzips 110
VII. Resümee: Vorschlag zur Bescheidenheit 133